Forrest Gump und die Tür nach drüben

Wie man mit Menschen im Himmel auf Urlaub geht

Ich stehe am Fenster. Draußen ist es schon dunkel, ich sehe nur schwarz – und mich selbst, die Küchenbeleuchtung, den Wasserkocher, in dem gerade das Wasser für meinen Tee heiß zu werden beginnt. Es brodelt, der Kocher schaltet sich ab, mit einem Klick, ich stehe immer noch am Fenster. Es weint aus meinen Augen. Mein Mund lächelt, lacht, sagt „Heli“. Ich streichle meine eigenen Wangen, langsam, behutsam. „Schön bist du“, flüstere ich. Und wende mich ab, beschenkt und geliebt.

 

Es war im Frühjahr 2020. Eigentlich sollte ich gerade in Gelsenkirchen sein und ein Seminar leiten, aber wir mussten auf online umsatteln. Deshalb stand ich in meiner eigenen Küche, als die Begegnung geschah.

 

„Ein Wochenende mit dir“ hieß das Seminar, das ich leitete, damals zum ersten Mal und seither schon sechs Mal mit Gruppen von jeweils zwölf Menschen. Inzwischen lade ich meine Teilnehmer*innen am ersten Kursabend zu eben jener Erfahrung ein, die mir beim ersten Mal, abends nach dem ersten Kurstag, wie zufällig zuteilgeworden ist. Ich rege an, sich an ein Fenster zu stellen und sich selbst anzusehen – so lange, bis sie sich durch die Augen des geliebten gestorbenen Menschen sehen, mit dem sie zu diesem Wochenende gekommen sind. Liebende Augen aus einer weiteren Welt. „Durch deine Augen sehe ich …“, schreiben wir dann. Dabei fließen immer Tränen, warme und heiße, liebevoll leise.

 

„Drei innige Tage mit einem Menschen, der schon im Himmel wohnt“ lautet der Untertitel des Seminars, zu dem Menschen mit gestorbenen Kindern ebenso kommen wie Witwen, Töchter und Söhne gestorbener Mütter, verwaiste Geschwister und beste Freund*innen. Von Freitag bis Sonntag gestalten wir unsere Zeit – mit dem klaren Ziel, die Verbindung zum Menschen im Jenseits zu kräftigen, zu klären, die Erinnerungen ans gemeinsame Leben zu beleben und zu bedanken und Schmerzpunkte gut einzubetten in ein größeres Ganzes.

 

Eine gewagte Idee, die ich da hatte, als ich das Seminar entwarf: Kann man Verbindung auf Knopfdruck herstellen? Kann man einem Menschen innerhalb von drei Tagen wieder richtig nahekommen, auch wenn er seit dreißig Jahren tot ist, ja: auch, wenn man ihn nie kennengelernt hat (wie zum Beispiel der eigene Vater, der die schwangere Mutter verließ)?

 

Heute darf ich aus Überzeugung sagen: Ja, das geht. Es will gehen, sage ich fast, weil ich den Eindruck habe, dass sich unsere lieben Gestorbenen dankbar zu uns gesellen, sobald wir uns nur für gewidmete Zeit entschließen und dranbleiben, auch wenn es nicht sofort passiert.

 

Ich möchte hier über ein paar Zugänge schreiben, die sich im „Wochenende mit dir“ immer wieder bewähren und jederzeit, auch zu Hause, eingesetzt werden können. Wenn Sie gern anrufen würden, aber die Nummer nicht mehr existiert. Wenn Sie den Fahrstuhl zum Himmel gern fänden. Oder wenn die Sehnsucht such meldet, im Traum oder in Tränen.

 

Wenn das Seminar beginnt, stellen wir einander erst einmal vor – als die, die wir sind, mitten im Leben. Noch ohne „die Geschichte“, die mit dem Tod geendet hat. Danach sprechen wir (nur) die Namen der gestorbenen Begleiter aus. Und notieren sie auf ein Kärtchen aus Büttenpapier, auf die wir ein Herz kleben. Schon da beginnt die Verbindung spürbar zu werden. Das Kärtchen kommt in die Tasche oder unter den Stuhl oder vorne ins Heft und wird zur Begleiterin, zum Erinnerungsanker. Einige Kärtchen sind schon mitgekommen, zum Essen, ins Bett, auf Spaziergänge, am Ende waren sie manchmal zerknittert. Dafür waren die Gesichter der Menschen glatt und gelöst.

 

Eine Übung des ersten Abends ist simpel, so simpel, dass ich ihr nicht den Namen „Aufstellung“ geben will. Ich bin kein Medium und auch keine geübte Aufstellerin. Ich biete mich  nur einfach an, als physische Stellvertreterin des geliebten Menschen. „Stell uns so auf, wie es sich stimmig anfühlt. Und wenn sich etwas bewegen will, erlaube es dir.“ Wie oft bin ich bei dieser Übung schon innig umarmt worden. Wie oft hat die Umarmung lange gedauert – subjektiv lang, vielleicht eine Minute. Objektiv kurz, im Vergleich zu drei oder dreißig Jahren der Sehnsucht. Ich höre von Heilung, nach dieser Umarmung. Von Angekommen sein. Von Gehenlassen können. Kann es wirklich so einfach sein? Sicher nicht immer und für alle. Aber es rührt mich, wie oft ich die erste bin, die stellvertretend umarmt wird – und wie lange Menschen auf solch eine letzte oder heiß ersehnte Umarmung warten mussten. Ich bin nichts Besonderes – einfach ein Mensch, der sich zur Verfügung stellt. Ich glaube, jede und jeder von uns kann dieser Mensch sein, jederzeit.

 

Der zweite Tag

 

Am zweiten Tag spreche ich über die Idee, dass Beziehungsglück aus vier Komponenten besteht, und zwar sowohl zwischen Lebenden als auch in Beziehungen zwischen Himmel und Erde. Ich nenne diese Komponenten „Du-ig“, „beid-ig“, „wir-ig“ und „ich-ig“. Soll heißen: Das Glück aneinander, das Glück miteinander, das Glück in größeren geborgenen Kreisen – und das Glück, etwas alleine zu tun und sich geliebt zu wissen vom andern, der im Nebenraum (oder geistig in der Nähe) ist. All diese Qualitäten von Glück lassen sich übersetzen auf die Beziehung nach dem Tod, am leichtesten das „ich-ige“ Glück, denn unser lieber Mensch ist ja jetzt immer bei uns und auf unserer Seite. Am schwierigsten ist das „wir-ige“ Glück, denn genau das (im Sinne von Sex, Umarmung, innigem Anschauen und riechen und hören) fehlt uns ja am meisten. Hier übernimmt die Dankbarkeit, als Trägerin der Botschaft: Du hast es erlebt. Es ist da, in Dir, als unlöschbare Erfahrung.

 

Nach einer persönlichen Auseinandersetzung mit dem Thema „Glück früher und heute“ rege ich die Teilnehmenden an, Zeichen zu finden. Das ist eine spannende Sache, verbunden mit der Frage: kann man Zeichen überhaupt suchen? Kommen die nicht zufällig und immer ungeplant? Meistens gehen alle unschlüssig los – und kommen nach einer Stunde mit roten Wangen zurück, der Austausch in Paaren verläuft angeregt bis aufgeregt. Ich sehe staunendes Kopfschütteln, darf später Wunder- und Zufallsgeschichten hören. Noch nie ist ein Mensch ohne Zeichen zurückgekommen von dieser Tour. „Warum dieses Zeichen?“, diese Frage dient uns als Anlass für ein Gespräch am Papier. Ich rege an, erst einmal zu spekulieren. Warum wohl dieser Stein? Warum dieser Stock, dieser Ballon? Irgendwann im Text kommt oft ein Punkt, an dem der gestorbene Mensch den Stift übernimmt und erstmals in diesen Tagen zu „sprechen“ beginnt. Da kommt es zu heiligen Momenten, zu tiefer Berührtheit – und auch zu Erdung und manchmal zu einem lachenden „typisch Peter“ (oder Klaus oder Marie).

 

Eine letzte Erfahrung, die man jederzeit auch zu Hause machen kann:

 

Wir treten in den Himmel ein. Beziehungsweise: bewegen uns frei zwischen Himmel und Erde. Wir sitzen auf einem Stuhl und stellen uns vor, hinter uns sei das, was wir „Himmel“ nennen – was auch immer das ist, ein Zustand, ein Ort, ein Gefühl. Ich spiele die ersten sechs Minuten der Ouverture von „Forrest Gump“. Für mich trägt keine andere Musik trägt so viele verschiedene Qualitäten des Lebens und des Überirdischen in sich. Wir hören die Musik, am Stuhl, vor dem Stuhl, hinter ihm, still, kreisend, bewegt oder tanzend. „Alles ist da, alles verbunden“, höre ich oft nach dieser Erfahrung. Danach gestalten wir eine Collage, die „Postkarte aus dem Himmel“ heißt. Ein leiser Prozess, bei dem sich vieles aus dem Wochenende setzt.

 

Natürlich hat nicht alles in einem Wochenende Platz, was möglich und beglückend wäre. Andererseits: Es braucht nicht immer ein ganzes Wochenende, um mit unseren lieben Menschen im Himmel in Kontakt zu kommen. Eine Umarmung, die länger dauert als normal. Ein Musikstück, zu dem du dich bewegst. Ein paar Zeilen, von dir nach drüben oder von drüben zu dir. So klein sind die Schlüssel, die große Tore öffnen.

 

P.S.: Wenn ich mit meinen Teilnehmer*innen im Kreis sitze, stelle ich mir manchmal vor, dass sich die zwölf da drüben im Himmel auch zusammensetzen und miteinander Zeit verbringen. Das Bild bringt uns oft zum Lachen. Da sitzen dann Oma und Kleinkind und Tante, zwei Pubertierende, ein Schulkind, drei Männer im besten Alter und machen … ja, was machen sie wohl, während wir Erdenarbeit tun? Eine schöne Frage, über die ich unbedingt einmal schreiben muss.

 

Das nächste „Wochenende mit Dir“ findet von 26.-28. Mai 2023 live online statt. Es gibt noch freie Plätze. (Zum Kurs)

Comments

  • Rita

    Was für eine wunderschöne Idee, bietest Du das Wochenende nochmal an einem anderen Termin an? An dem Wochenende im Mai kann ich leider nicht! Liebe Grüße Rita Willmann

    • bpachleberhart-admin

      Liebe Rita, ich habe derzeit keinen neuen Online-Termin im Kalender. Live findet der Kurs im Oktober in Salzburg statt (hier). Vielleicht passt es ja da? Alles Liebe! Barbara

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