Warum ich schreiben lernen wollte
Eingereicht als erste Schreibaufgabe für den Kurs „Die große Schule des Schreibens“ bei der Hamburger Schule des Schreibens.
Es gab eine Zeit, da war das Leben meine Heimat. Ich war zu Hause in Fluren, in denen mein Lachen hallte, in Wasserpfützen, die spritzten, wenn ich sprang, und in vielen, vielen Kugeln Eis, die nach Banane schmeckten, nach Schokolade, oder – an mutigeren Tagen – nach Erdnuss oder nach „Schlumpf“.
Ich bewegte mich in dieser wirklichen Welt, als wäre dies mein angestammtes Recht. Tatsächlich zweifelte ich keine Sekunde daran, dass das Leben mir gehörte und immer mir gehören würde. Ich kannte mich aus. Ich lief durch das Lebensland, und steckte meine Nase in jede neue Gasse, die ich nur entdecken konnte.
Meine Sprache war lebendig, sie hatte apfelrote Wangen wie ich. Sie wusste viel über das Leben. Wenn es zum Beispiel darum ging, zu erzählen, was man alles in einer Badewanne machen kann (vor allem, wenn der eigene Vater mitbadet), kannte sie viele Vokabeln. Mein liebstes Badewannenzauberwort hieß: „Experiment“. Mein Vater hatte für unsere Badewannenabenteuer immer neue Requisiten auf Lager. Zum Beispiel eine Kerze, die unter einem Glas erstickt. Oder einen Zahnputzbecher, den wir randvoll mit Wasser befüllten. Randvoll und dann – Geht das wirklich? Ja, es geht! – noch voller. Ich staunte: Das Wasser wölbte sich über dem Rand. Manchmal experimentierten wir auch ohne Requisiten. Wir bliesen mit den Händen Seifenblasen oder machten uns Nikolausbärte aus Badeschaum.
Ein anderes, schwieriges Wort brachte mir mein Vater bei, als wir einmal, wie fast jeden Sonntag, Tages, in unserem Lieblingspark spazieren gingen: Vernissage.
„Ich wette, du merkst es dir nicht bis zu Hause“, neckte er mich. Mein Ehrgeiz war geweckt. Auf dem Heimweg war ich schweigsam, hoch konzentriert, ich verzichtete auf die meisten meiner üblichen, immer gleichen Scherze, ließ den Bonbonladen links liegen. An der Tür unseres Hauses wollte ich nicht einmal die Klingel drücken und, wie sonst immer, kichernd irgendeinen erfundenen Namen durch die Sprechanlage quieken. Ich hatte anderes zu tun. Meine Zunge hatte zu tun. Mein ganzer, fünfjähriger Kopf hatte zu tun.
Ver-nis-sa-ge: Ich hatte keine Ahnung, was dieses Wort bedeutete. Natürlich hatte mein Vater es mir erklärt. Aber ich war noch nie auf so etwas wie einer Ausstellung gewesen. Ich kannte keine Maler. Und ich kapierte nicht, warum Menschen, bitteschön, m Abend, wenn die interessanten Filme im Fernsehen liefen, irgendwohin gingen, um sich Bilder anzuschauen. Das konnte man doch den ganzen Tag im Museum.
Dieses Wort, Vernissage, das meinem Vater damals wohl einfach so aus heiterem Himmel eingefallen war, war eine der ersten Vokabel meines Lebens, die nichts mit meiner unmittelbaren Welt zu tun hatten. Es stammte aus einer Fremdsprache. Die Welt hinter diesem Wort hatte für mich keine Farben. Die Figuren, Besucher einer Ausstellung, hatten kein Gesicht. Sie waren weit weg, die Scheiben, durch die ich auf sie zu schauen versuchte, waren trübe, das Schlüsselloch war zu klein, um durchzuschauen.
Nichtsdestotrotz konnte ich daheim, an der Wohnungstür, die Silben wiederholen. Ich war stolz. Es war mir egal, dass ich nicht wirklich wusste, wovon ich sprach. Vielleicht war ich gerade darauf besonders stolz.
Ich verstaute die seltsame Vernissage in meinem Kopf. Im Lauf der Zeit merkte ich mir immer mehr dieser fremden Wörter. Plantage. Sauerstoffflasche. Donaudampfschifffahrtsgesellschaftskapitän. Und später dann: Börse. Krieg. Konkubine. Ich gewöhnte mich daran, dass sie zweidimensional und leblos waren. Ohne es zu merken, begann ich, selbst immer mehr dieser Wörter zu verwenden. Die Fremdsprache der großen, weiten, allgemeinen Welt hielt langsam Einzug in meinen Alltag. Ich wurde erwachsen.
Aus den Meerschweinchen, Mäusen und Katzen meiner Kindheit wurden jetzt, da ich meine Nase nicht mehr in Felle bohrte, der Einfachheit halber „Haustiere“. Aus Kastanien, Eichen und Föhren wurden „Bäume“. Ich sprach von „Urlaub“ und fuhr nicht hin, weil ich nicht genau darüber nachdachte, wohin ich wollte. Wenn ich einmal ein bisschen Zeit hatte, träumte ich davon, „irgendein gutes Buch“ zu lesen. Welches? Ach, lieber Wäsche waschen, das ist dringender. Die Apfelfarbe war von meinen Wangen verschwunden, ohne dass es mir aufgefallen war. Für die neue Farbe fiel mir kein Wort mehr ein.
Dann passierte etwas, das den letzten Rest an Rot von meinen Wangen radierte. Mein Mann Heli, mein Sohn Thimo, und Fini, meine lockiges, zwei Jahre alte Tochter, die stets eine Schmusedecke unterm Arm trug, krachten in unserem Clownbus in einen Zug. Ihr Leben war vorbei. Und ich ging ins Exil. Mit einem Leben, das aus heiterem Himmel Züge in Autos jagte, wollte ich nichts mehr zu tun haben.
Ich schloss die Tür, legte mich ins Bett und sah zu, wie ich nun selbst zur leblosen Hülse wurde. Die letzten lebendigen Vokabel meiner Existenz packten die Taschen und zogen aus. Der fremdsprachige Ersatz war dürftig. Essen. Nicht mehr als Theorie. Körperpflege. Was war das nochmal? Freunde. Bleibt draußen, bitte. Und lasst mich in Ruhe.
Was das Schreiben für mich bedeutet? Heute beantworte ich diese Frage so: Ich schreibe nicht, um Erfolg zu haben. Den hatte ich schon. Er war angenehm, aber glücklich gemacht hat er mich nicht. Erfolg, das blieb, obwohl ich von außen gesehen mitten drin war, auch so ein Lebloswort. Ich schreibe nicht, um den vielen Menschen, die sich in ihrer Trauer per E-mail an mich wenden, gut antworten oder gar Ratschläge erteilen zu können.
Der Grund, warum ich schreibe, ist simpler – und größer zugleich. Ich schreibe, um mir mein Leben Stück für Stück zurückzuerobern. Ich will mich an meine Muttersprache erinnern. An die Sprache des wirklichen Lebens. Schreibend möchte ich durch den Wald laufen und wieder entdecken, dass da nicht nur Bäume stehen, sondern uralte Eichen, Haselnusssträucher und zerfallene Märchenriesen. Schreibend möchte ich mich umschauen und bemerken, dass am Boden warme, feuchte Blätter liegen, und dass dort, wo die Wurzeln der Bäume sich über den Boden wölben wie das Wasser über einem vollen Zahnputzbecher, mindestens siebzehn Sorten Moos wachsen. Meine Hände begreifen das Moss und finden dann, auf Papier, Worte für seinen Duft, für seine Farbe, manchmal sogar für die Fragen, die es mir stellt.
Mein größter Traum: Für den siebenjährigen, blonden Buben, der auf einer Wolke sitzt und für immer sieben bleiben wird, bis ich zu ihm komme, Geschichten zu schreiben. Echte Geschichten, Lebensgeschichten, für Thimo und für all die anderen Kinder, die noch Bananeneis essen und hoffentlich nie vergessen müssen, wie man die Sprache lachender Wasserpfützen spricht.
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